Über Anne Serre

Tischlein deck dich

Vor ungefähr zwölf Jahren, genau weiß ich es selbst nicht mehr, wurde mir ein kleines gelbes Buch geschickt, erschienen im französischen Verlag Verdier.

Die Autorin hieß ANNE SERRE, das Buch trug den geheimnisvollen Titel »Petite table mise« (Tischlein deck dich). Ich begann zu lesen und verfiel in eine Art tranceartigen Zustand. War das ein Traum, der sich hier entfaltete? Eine Ich-Erzählerin, die mit federleicht gestimmter, aber ziemlich unheimlich wirkender Fröhlichkeit von ihrer Kindheit in einem Elternhaus erzählt, in dem die Mutter nackt am Fenster sitzt und sich die Schamhaare bürstet, wenn sie nicht den Hausarzt erwartet, der sich zwischen zwei Terminen auf oder unter einem riesigen, spiegelglatten Esstisch an ihr zu schaffen macht. Der Vater geht in Frauenkleidern aus, wenn er nicht in seinem Büro mit abwechselnden Freundinnen oder einer seiner Töchter beschäftigt ist. Drei, im Kindesalter, assistieren, sind beteiligt und können mit der sozialen Kontrolle durch die Nachbarn genauso virtuos umgehen wie mit den verschiedenen zur Inspektion des verdächtigen Geschehens herbeibeorderten Sozialhelferinnen, die belogen und verführt werden. Irgendwann, gegen Ende dieser Lektüre, schaut man mit der Erzählerin aus dem Fenster eines Autos. Im Liegesitz wartet sie darauf, dass ein von ihr verführter junger Mann von ihr ablässt. Unterdessen sieht sie in der Ferne, aus dem Dunst hinter den Feldern die Türme einer Kathedrale emporwachsen, und in ihr erwacht ein Wunsch nach etwas anderem. Danach verändert sich alles. Ich empfand die Lektüre als ebenso verstörend wie magnetisch.

Das aber ist nur der erste Teil dieser Novelle. Der zweite setzt das Geschehen aus der Perspektive der erwachsen werdenden Erzählerin fort. Thema ist hier ein Leben nach dem Tod. Dem Tod der Kindheit, dem Tod der Eltern, dem Verlust eines vom Gang der unvorstellbaren Ereignisse im Elternhaus bestimmten Bewusstseins, ja, einer ganzen Welt. Es wird ein Bericht über die nicht wiedergutzumachende Beschädigung eines Innenlebens, geschrieben jedoch in einem fast gelassen wirkenden Ton, der genauso wie bei dem ungeheuerlichen Geschehen des ersten Teils die Stimmung eines seltsam träumerischen, überhaupt nicht wehrlosen Selbstbewusstseins verbreitet, obwohl die Beschädigungen, die diesen Berichten von ruhelosen Reisen durch südeuropäische Landschaften zugrunde liegt, mitunter so ans Herz gingen, dass ich immer wieder einhalten musste. Es ist ein geräuschloser innerer Zusammenbruch, der sich vollzieht, unter Beteiligung vieler Menschen, denen die Erzählerin auf ihrer Reise begegnet. Am Ende aber steht eine tröstlich gemeinsame Neugeburt der Geschwister – eine ist verheiratet und hat Kinder, die Erzählerin nicht, die dritte Schwester bleibt verschwunden. Selten wird man als Leser wie hier zum Zeugen einer Familientragödie, die wirkt, als sei darin eine Art Erlösung aufgehoben. Und über alles gebreitet: der lichte Nebel einer Traumnovelle.

Dies war und ist ein besonderes Stück Literatur, aus Frankreich. Ich habe es inzwischen, im vergangenen Jahr, selbst übersetzt. Es wurde im Laufe der Arbeit noch eindrucksvoller, erschütternder, fantastischer als beim ersten Mal, als ich den ersten Teil mit so gesträubten Haaren las, dass der zartfühlende und dann erst recht in die Tiefe von Schuldbewusstsein und langsam wieder eroberter innerer Freiheit reichende zweite Teil fast nebenher und vergessen blieb.

Anstatt schon damals dieses schmale Buch zu übersetzen, schickte ich es einem prominenten Kollegen, der abwinkte und meinte, es handele sich um eine literarische Nichtswürdigkeit, von der man die Finger lassen möge. Erschrocken gehorchte ich. Und so blieb es liegen, bis heute. Eine englische Übersetzung erschien im New Yorker Verlag New Directions, ohne Skandal, der auch in Frankreich ausgeblieben war, wo man mit der Autorin öffentlich über dieses Buch diskutierte – weniger über den möglicherweise skandalösen Inhalt, sondern über das, was hier in Literatur von der anspruchsvollsten Sorte gegossen war. Die Rezensionen waren mehr als respektvoll.

Anne Serres erstes Buch bei uns erschien Jahre später. War es der Schock über das, was ich gelesen hatte? Über die Reaktion von Leuten, die es besser wissen sollten? 2022 jedenfalls war es so weit: »Im Herzen eines goldenen Sommers«, eine gedichtete Autobiographie in 33 Kurzerzählungen auf ganzen 116 Seiten? Vielleicht. Jedenfalls hebt sich auch hier nie ganz der zarte Dunst der Traumnovelle. Vexierspiele mit Figuren sind zu lesen und zu besichtigen. Die Hauptpersonen sind Frauen – einmal mehr Mütter, Schwestern, deren Garderobe oder soll man sagen: Verkleidung mitsamt der duftigen Atmosphäre, die die Ahnung einer erotischen Verstörung vermittelt, immer wieder eine Hauptrolle spielt. Auch schon aus diesem Buch wird die heimliche Biographie einer Familie sichtbar, eine Ahnung von Beschädigung und Verstörung, und insofern war und ist dieses schmale, von unserer Gestalterin Antje Haack mit einem besonders schönen Umschlag geschmückte Buch der Novelle, die mich so erschüttert hatte, durchaus verwandt. Auch verwandt, und ein Markenzeichen dieser Autorin: der federleichte, elegante und immer wieder verblüffend freimütige Stil. Anne Serre, das sollte nicht vergessen werden, bekam dafür den Prix Goncourt de la nouvelle.

Ein Jahr später erschienen »Die Gouvernanten«, der Erstling, mit dem diese Autorin zu Beginn der neunziger Jahre in Frankreich bekannt wurde. 92 Seiten (wie schon das erste Buch einfühlsam, luftig und dem Original angeschmiegt übersetzt von Patricia Klobusiczky), die einen Roman zu nennen die Rituale und Erkennungsregeln des Buchmarkts vielleicht erfordern, die aber eigentlich etwas ganz anderes sind. Und was? Ein Rausch mit drei Frauen, gefangen in einem üppigen, um ein Herrenhaus samt Familie gelegenen Park, durch den sie mit ihren duftigen Kleidern wehen, auf der Suche nach den jungen Männern, die sich am Gittertor drängeln. Und wehe, es gelingt einem, in das verwunschene Gelände einzudringen. Auch hier fand Antje Haack einen kongenialen Umschlag und zauberte im Verein mit unserer Herstellerin Beate Zimmermanns ein auch vom typographischen Anspruch her wundervolles kleines Buch.

Und es geschah etwas Bemerkenswertes. Ja, schöne Rezensionen, aber die eigentliche Reaktion vollzog sich im Bereich der viel gescholtenen social media und bei den vielen Bookstagramerinnen, denen wir das Buch mit altrosa Schleife und handgeschriebener Postkarte schickten. Das Echo konnten wir während einer Lesereise erleben, die die Autorin mit ihrer Übersetzerin durch verschiedene Städte unternahm.

In Berlin traf ich Anne Serre, und wie ich es bei solchen Gelegenheiten gern mache, zeigte ich ihr ein wenig von Berlin, was sie höflich zur Kenntnis nahm. Begeisternd fand sie alle Außenhüllen, Mauern, Bäume, Grünes. Was sich dazu an Geschichtlichem und Politischen sagen ließ, und das ist in der Hauptstadt nicht wenig, schien diese elegante Französin eher wenig zu interessieren. Nachfragen nach politischen Vorkommnissen in Frankreich beschied sie mit höflichem Abwinken. Es schien sie nur peripher zu interessieren, was in Macrons konstitutioneller Monarchie los war. Schon gar nicht das im Herbst 2023 unüberhörbare internationale Toben. Sie lebe auch in Paris vorwiegend zu Hause, sagte sie, und schreibe, so wie sommers im geerbten Landhaus ihrer Familie, weitab, im Inneren des Landes, wohin sie Freunde, die des Weges kämen, einlade und wo man an Regentagen ein Puzzle mit 500 Teilen nach Motiven von Hervés Tintin-Comics legen kann.

Am Abend ihres Auftritts in Berlin erschien dieser freie Geist von einer Frau zur Veranstaltung im Roten Salon der Volksbühne. Es regnete. In Strömen. Ich nahm ein Taxi, das ich vor der Kolonnade der Volksbühne verließ, um auf dem kurzen Weg zum Hintereingang ziemlich durchnässt zu werden. Wer wird an einem solchen Abend hinterm Ofenrohr hervorkriechen und zu einer Lesung mit Anne Serre gehen, dachte ich. Das Auditorium aber war bis auf den letzten Platz besetzt, und das Publikum bestand nicht aus der üblichen Zielgruppe dieses Verlags, die sich im Bereich von 60+ versammelt, sondern fast ausschließlich aus jungen Leuten, die gebannt bis zur letzten Minute dem Gespräch zwischen Autorin und Übersetzerin folgten.

Ich fühlte mich, schon wieder, wie in einem Traum oder wie in einer jener die Wahrscheinlichkeit auf eine ironische Probe stellenden Geschichten, wie sie Anne Serre so gerne schreibt. Auch an diesem Abend sprach sie ausschließlich über Literatur. Über das, was sie in ihren Büchern tut, und über das, was ihr dabei am Herzen liegt: nicht die Überredung, die den Leser auf die Seite eines, mehr oder weniger, wie ein Fanfarenstoß vorgetragenen Themas ziehen will. So etwas scheint dieser Autorin gänzlich fremd, und die Behauptung, dass Literatur politisch sei, gar zu sein habe, würde vermutlich nicht einmal ein befremdetes Kopfschütteln hervorrufen.

Mit l’art pour l’art hat das nichts zu tun. Unter den spielerischen Elementen, mit denen Anne Serre in ihren Büchern immer wieder ihr eigenes Selbst, soweit es vorkommt, verwischt, eine Art Überredung, die den Leser mit in die besagte Traumwelt nimmt, in der die Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens keine Rolle spielen, unter diesen literarischen Instrumenten könnte bisweilen in Vergessenheit geraten, dass in der ästhetischen Eigenwelt von Anne Serre das Tragische eine nicht zu unterschätzende, wenn auch immer wieder raffiniert verborgene Rolle spielt.

Schon in »Tischlein deck dich« versteckt sich hinter der inzestuösen Oberfläche ein Familiendrama. In dem gerade bei uns erschienenen dritten Buch von dieser Autorin, »Einer reist mit«, wird dieses zwar unter den Teppich eines vorwiegend der Literatur vorbehaltenen und gewidmeten Reiseberichts gekehrt. Aber auch dort rumort es unüberhörbar.

Und was ist das nun? Wirklich »nur« ein Bericht von einer Reise im TGV zu einem Literaturfestival und zurück? Ein Literaturrätsel? Oder eben schon wieder ein Familiendrama? Ein Spiel mit literarischen Heldinnen und Helden? Erfundenen und nicht erfundenen? Ach, muss man das alles nochmal erklären? Nicht doch! Ein Rätsel wird diese Autorin immer bleiben, und das ist schön. Wer sie aber in ihrer literarischen und biographischen Intimität zumindest ein Stück weit kennenlernen will, wird auch in diesem kleinen Wunderwerk alles finden, gut versteckt und unterhaltsam verhuscht. Mütter, Väter, Schwestern, Tod und Leben, nicht zu vergessen ein ganzes Schock wimmelnder Bestandteile aus jener Literatur, die uns umgibt wie ein Schleier, von dem wir fühlen, wie er sacht im Wind weht und uns leitet, ohne dass wir je ganz genau wüssten, wohin. Und wozu auch?

Lisez!

Ihr
Heinrich v. Berenberg

Newsletter

Bleiben Sie auf dem Laufenden und abonnieren Sie unseren Newsletter! Darin informieren wir über Neuerscheinungen, Termine und Neuigkeiten aus dem Verlag. Selbstverständlich kostenlos und jederzeit kündbar.

Newsletter Anmeldung

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Hier hat etwas leider nicht geklappt. Bitte versuchen Sie es noch einmal.